Funktionsstörungen bei LKG-Fehlbildungen
Im Laufe einer Behandlung von LKG-Fehlbildungen können Wachstumsprobleme des Kiefers auftreten. Häufig werden
dafür genetische Ursachen, mangelhaftes Wachstumspotential oder postoperative Narbenbildungen angeschuldigt und
damit als schicksalhaft angesehen.
Zahlreiche Autoren, darunter insbesondere die Professoren Eschler, Schilli und Delaire haben erkannt, dass die Muskulatur
des Gesichtes und des Rachens einen entscheidenden Einfluss auf das Gesichtswachstum ausüben. Ursächlich ist die Tatsache,
dass um den 40igsten Tag der Schwangerschaft - aus bisher ungeklärten Gründen - die Muskeln des Mittelgesichtes
bei Lippenspalten und die Muskeln des Rachens bei Gaumenspalten sich nicht an der dafür vorgesehenen Stelle anheften.
Dies hat bereits während der Schwangerschaft eine ausgeprägte Fehlfunktion der betroffenen Muskeln zur Folge, was
sich in einer Deformierung der Weichteile und der Knochen des Gesichts ausdrückt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang,
dass Haut, Schleimhaut und sämtliche Muskeln vorhanden sind; sie befinden sich lediglich an der falschen Stelle. Es handelt
sich also nicht um eine Defektfehlbildung, sondern um eine Dislokationsfehlbildung
Primärversorgung
Das von uns entwickelte Behandlungskonzept für Primäroperationen basiert auf umfangreichen Untersuchungen, die zeigen,
dass die sorgfältige Rekonstruktion der Muskulatur von Lippe, Nase, Mittelgesicht und Gaumen von entscheidender
Bedeutung für ein sich anschließendes normales Gesichtswachstum sind. Unser operatives Verfahren integriert wissenschaftliche
Erkenntnisse mit jahrzehntelanger erfolgreicher Behandlung dieser Fehlbildungen, wodurch für diese Kinder die Möglichkeit
erschlossen wird, ein normales Leben zu führen. Spätere Korrekturoperationen können somit auf ein Minimum reduziert werden.
(Literatur Joos et al.1989, 1991, 1995, 1998, 2000, 2001, 2006 (
>> Literatur)
Primäroperationen 1 - Lippenoperation
1963 forderte Schilli die sorgfältige Rekonstruktion des Musculus orbicularis oris in der Behandlung von LKG-Spalten und
wies erstmalig auf die Bedeutung der Gesichtsmuskulatur als maßgeblich für das Mittelgesichtswachstum hin.
1972 zeigte Delaire die Wichtigkeit der paranasalen mimischen Muskulatur des Mittelgesichtes bezüglich des Gesichtswachstums
und entwickelte auf der Basis von anatomischen Studien und Wachstumsabläufen ein operatives funktionsorientiertes Behandlungskonzept.
In umfangreichen Nachuntersuchungen zeigte sich, dass durch sorgfältige Rekonstruktion der paranasalen und perioralen
Muskulatur nicht nur die Entwicklung des Mittelgesichtes, sondern auch die Ästhetik deutlich verbessert werden kann. (Joos 1987, 1989, 2000) (
>> Literatur) ,)
Primäroperationen 2 - Lippenoperation Prinzip
Das wichtigste bei dieser Operation besteht darin, die um den 40.Tag der Schwangerschaft nicht erfolgte Vereinigung der einzelnen
Muskeln des Gesichtes, der Nase und der Lippe nachzuholen. Dafür werden entsprechende Schnitte in der Haut und der Schleimhaut in der
Art gelegt, dass die darunterliegende Muskulatur nicht verletzt wird. Danach werden Muskulatur und Weichgewebe gelöst und neu
vereinigt, sodass die Muskeln an die richtige Stelle gebracht werden. Dies bedeutet, dass der durch die Spaltbildung unterbrochene
Muskelring des Mittelgesichtes und der Lippe geschlossen wird. Es wird auf schonende Art die Fehlstellung der Muskulatur korrigiert.
Zusätzlich wird die Nase in spezieller Art und Weise gelöst und die darin liegenden Knorpel neu ausgerichtet. Im Mund wird nach Lösung
der Schleimhaut die Kieferspalte mit Schleimhaut verschlossen und ein Mundvorhof gebildet, der die Beweglichkeit der Lippe gewährleistet.
Primäroperationen 3 - Gaumenoperation Prinzip
Bei der Gaumenoperation verschließen wir den harten und den weichen Gaumen in einer Operation. Dabei werden die Nasengänge mit der
Nasenschleimhaut, die Mundschleimhaut und im Bereich des weichen Gaumens die Muskulatur und das Weichgewebe gelöst und
an die richtige Stelle gebracht. Dies bedeutet, dass der durch die Spaltbildung unterbrochene
Muskelring des Rachens auf schonende Art geschlossen wird. Dadurch wird die Trennung
von Mund- und Nasenhöhle erreicht und auch die Belüftung des Mittelohres weitgehend normalisiert.
Primäroperationen 4 - Prinzip der Kieferspaltosteoplastik
Die Kieferspaltosteoplastik ist in ca. 60 Prozent der Patienten mit LKG-Spalten erforderlich. Bei ca. 40 Prozent der Kinder ist nach
muskulärer Rekonstruktion ein spontaner Verschluss möglich. Die Zeitwahl der Osteoplastik bei LKG-Spalten ist seit den Arbeiten von
Härle (1971), Koberg (1973), Bergland und Semb geklärt. Es hat sich eindeutig gezeigt, dass der Zeitpunkt nach Durchbruch der seitlichen
Schneidezähne mit ca. 7 bis 9 Jahren der günstigste ist. Ein Vorteil besteht darin, dass nach erfolgter Osteoplastik sehr rasch die
KFO-Behandlung eingeleitet werden kann und dadurch eine Eingliederung sämtlicher angelegter Zähne ermöglicht wird. Das häufig bei der
primären Osteoplastik beobachtete Phänomen der Spanresorption kann dadurch ebenfalls vermieden werden. Ein weiterer entscheidender
Vorteil der früh-sekundären Osteoplastik besteht darin, dass gleichzeitig eine Neuordnung der perioralen und perinasalen Muskulatur
durchgeführt werden kann, falls dies nicht mit der Primäroperation erfolgte und damit das noch vorhandene Wachstumspotential im Mittelgesicht ausgenützt werden kann.
Korrekturoperationen
Sind die Primäroperationen nicht nach wachstumsphysiologischen Gesichtspunkten durchgeführt worden, ergeben sich nicht selten komplexe Wachstumsstörungen.
Diese können sämtliche Strukturen des Gesichtes betreffen, wie z.B. Nase, Lippe, Oberkiefer, Unterkiefer, Gaumen oder Sprache.
Entsprechende Korrekturoperationen können auch zu späteren Zeitpunkten erfolgen. Es muss dann eine individuelle Beratung und interdisziplinäre
Therapieplanung durchgeführt werden, um die einzelnen Behandlungsschritte aufeinander abzustimmen. Diese können sowohl Korrekturen der Muskulatur,
des Weichgewebes, des Skeletts als auch der Zähne betreffen. Da hierfür zahlreiche unterschiedliche Operations- und Behandlungsverfahren zur
Verfügung stehen, kann dies nur durch eine persönliche Beratung erörtert werden.
Interdisziplinäres Konzept für
LKG-Fehlbildung
Die Lippen-Kiefer-Gaumenfehlbildung erfordert für eine erfolgreiche Behandlung ein interdisziplinäres Behandlungsteam, das sich auf ein
gemeinsames Behandlungskonzept festgelegt hat. In den Bereichen Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie, HNO mit Pädaudiologie, Kieferorthopädie,
Pädiatrie, Logopädie und Zahnheilkunde wird in interdisziplinären Sprechstunden die individuelle Therapie für jeden Patienten festgelegt.
Nach Abschluss der Primäroperationen wird die Entwicklung des Kindes in jährlichen Kontrolluntersuchungen beobachtet und - falls notwendig -
weitere Schritte eingeleitet. Diese Betreuung erfolgt in der Regel bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres.
LKG-Fehlbildungen - Welche Behandlungsmethode?
Die von ‚Shaw et al. 2000' publizierte Eurocleftstudie zeigt, dass in den einzelnen Spaltzentren sehr unterschiedliche Behandlungsprotokolle praktiziert werden.
Unter Berücksichtigung der Reihenfolge des Zeitplanes und der Operationstechniken führen 201 registrierte Zentren 194 verschiedene Protokolle durch.
Als Ergebnis zeigte sich, dass die Auswahl der Behandlungsmethodik eher traditionelle, sozial- und berufspolitische Motivation hat und nicht auf
wissenschaftlichen Studienergebnissen basiert.
Die klassischen chirurgischen Konzepte reichen von einem schrittweisen Verschluss der Lippenspalten über eine sogenannte Lippenadhäsion
im Bereich des Nasenbodens oder aber im Bereich des Lippenrotes mit sekundärem Verschluss der Restspalte bis zu den neueren geometrischen oder
Rotations-Verfahren z.B. nach Millard oder Pfeifer.
Von Hotz (1969), Rosenstein und Jacobson (1967) wurde die präoperative kieferorthopädische Behandlung von LKG-Fehlbildungen mittels
Gaumenplatte in die moderne Kieferorthopädie eingeführt. Trotz intensiver kieferorthopädischer Bemühungen, konnten die Fehlentwicklungen der
Kiefer und der Nase nicht verhindert werden und bedurften in der Regel mehrerer Korrekturen, sowohl der Weichteile wie auch des Skelettes,
nach Abschluss des Wachstums. (Göz 1987, Jonas 1986, Ross 1987, Joos 1987).
Latham (1980) und Millard et al. (1988, 1999) versuchten durch aktive kieferorthopädische Geräte das Wachstum zu verbessern, jedoch
zeigten spätere Untersuchungen, dass damit eine dreidimensionale Wachstumsstörung mit einher ging (Henkel 1997, Henkel und Gundlach 1998).
Dies legt den Schluss nahe, dass andere Faktoren für das Wachstum maßgeblich sind als bislang angenommen. Als Konsequenz zahlreicher wissenschaftlicher
Untersuchungen ergibt sich ein entwicklungs- und funktionsorientiertes Operationskonzept, welches neben der Rekonstruktion der
Gesichts- und der Rachenmuskulatur auch die Wiederherstellung der facialen Einheiten (Muskel-Periost-Apparat im Mittelgesicht,
Nase, Mundvorhof, Gingivo- und Alveolarfortsatzplastik sowie Gaumenmuskulatur) zum Ziel hat - und dadurch eine Normalisierung des Gesichtswachstums erreicht wird.
Falls Sie weitere Fragen haben, können diese in einem persönlichen Gespräch geklärt werden.
(Tel.: 0203/508-56040)
Joos U : Long-term results after repair of unilateral cleft lip alveolus und palate.
Oral and maxillofacial surgery clinics of North America Volume 12, Number. 3, August 2000
>> Literatur